Unser kollektiver Appetit im Wandel – faire Ernährungsumgebungen schaffen
Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE)
Zeit: Donnerstag, 19. Januar 2023, 16:00 – 17:30 Uhr
Raum: M8
Sprachen: Englisch, Deutsch
Zusammenfassung:
Die Abschaffung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für tierische Produkte, die verpflichtende Einführung des Nutri-Scores oder die Verbesserung der Bildungsprogramme für nachhaltigen Lebensmittelkonsum – welches Instrument der Ernährungspolitik würden Sie unterstützen? Um einige Instrumente erweitert, wurde diese Frage zu Beginn und am Ende des Fachpodiums dem Publikum gestellt. Dazwischen präsentierten und diskutierten vier Expert:innen über faire Ernährungsumgebungen und ihre Rolle bei der Umgestaltung unseres kollektiven Appetits. Ein kollektiver Appetit, der stärker auf die vier Nachhaltigkeitsdimensionen Gesundheit, Umwelt, Soziales und Tierschutz ausgerichtet ist, wie sie der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz in seinem Gutachten über eine integrierte Ernährungspolitik (WBAE, 2020) definiert hat. Professorin Britta Renner erläuterte einleitend, wie die Ernährungsumgebung unser Ernährungsverhalten über den gesamten Verhaltensprozess beeinflusst: von dem, was wir sehen (Exposition), was uns zugänglich ist (Zugang), was wir wählen (Auswahl) bis hin zu dem, was wir essen (Konsum). Dabei ist die Ernährungsumgebung ein wichtiger Hebel, um eine nachhaltigere Lebensmittelwahl zu erreichen. Dazu müssen die politischen Entscheidungsträger:innen sie „fair” gestalten, d. h. sie müssen auf unsere menschlichen Wahrnehmungs-, Entscheidungs- und Verhaltensfähigkeiten abgestimmt sein und mehr und einfachere Wahlmöglichkeiten für eine nachhaltigere Ernährung bereithalten. Die Bereitstellung von Informationen ist aus zahlreichen Gründen nicht ausreichend. Professorin Theresa Marteau baute auf diesen Erkenntnissen auf, indem sie aufzeigte, welche politischen Maßnahmen am vielversprechendsten sind, um das Ernährungsumfeld zu verändern: steuerliche Maßnahmen (Steuern und Subventionen), eine Veränderung des Angebots an Mahlzeiten und eine Verringerung der Portions- und Verpackungsgröße von Lebensmitteln mit hohem Energiegehalt. Trotz der vorhandenen empirischen Belege dafür, wie eine faire Ernährungsumgebung geschaffen werden kann, gibt es Hindernisse wie den Widerstand der Industrie und die mangelnde öffentliche Nachfrage nach Veränderungen. Das Fachpodium bot auch eine Perspektive aus der Industrie: Stefan Haensel stellte die Strategie von Lidl für eine bewusste Ernährung vor. Sie beinhaltet die Umstellung auf ein Sortiment, das sich stärker an der planetary health diet orientiert, den Verzicht auf das zielgerichtete Marketing “ungesunder” Lebensmittel an Kinder und eine erhöhte Transparenz über Label. In der anschließenden Diskussion, die von Professor Achim Spiller moderiert wurde, ging es u. a. um Lehren, die aus der Tabakpolitik gezogen werden können. Und wie gingen die Umfragen aus? In beiden Runden sprach sich das Publikum für verbindliche Qualitätsstandards in der Gemeinschaftsverpflegung, wie in Schulen, und generell Lenkungssteuern aus. Interessanterweise nahm die Unterstützung für Bildungsprogramme zum nachhaltigen Lebensmittelkonsum im Verlauf der Podiumsdiskussion deutlich ab.
Keynote Sprecherin
Themenschwerpunkte
Untersuchung psychologischer Determinanten des Gesundheitsverhaltens mit Fokus auf dem Ernährungsverhalten sowie auf der Entwicklung mobiler Interventionen zur Verhaltensänderung. Weiterer Schwerpunkt ist die subjektive Risikowahrnehmung und Risikokommunikation.
Ausbildung
2004 Habilitation und Venia Legenda in Psychologie, Universität Greifswald
2000 Promotion in Psychologie, Freie Universität Berlin
1993 Diplom in Psychologie, Freie Universität Berlin
Berufliche Tätigkeiten
Seit 2007 W3-Professorin, Fachbereich Psychologie, Universität Konstanz
2011 Lehrstuhl für Gesundheitspsychologie (W3), Fachbereich Psychologie, Freie Universität Berlin (abgelehnt)
2004-2007 Professorin für Psychologie, JCLL, Jacobs University Bremen
2000-2004 Postdoktorandin am Institut für Psychologie der Universität Greifswald
1993-1999 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Psychologie, Freie Universität Berlin
Akademische und wissenschaftliche Funktionen
2019-heute Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE)
2019-heute Mitglied des Senats der Universität Konstanz
2019-heute Mitglied des Advisory Boards der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, Österreich
2018-heute Vorstandsmitglied und Projektleiterin (PI) des DFG-Exzellenzclusters 2117 „Centre for Advanced Study of Collective Behavior“, Universität Konstanz
2018-heute Sprecherin der Fachgruppe „Ernährungsverhaltensforschung“ der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE)
2018-heute Stellvertretende Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
2015-heute Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
2015-2021 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Kompetenzclusters Ernährungsforschung Berlin- Potsdam NurtiAct
2012-2015 Koordinatorin der Gruppe “Risikokommunikation”; BMBF “Risikomanagement von neu auftretenden Stoffen und Krankheitserregern im Wasser” (RiskWa)
2008-2017 Vorstandsmitglied des Lurija Instituts für Rehabilitationswissenschaften
2007-2011 Sprecherin der Fachgruppe Gesundheitspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie
2010 Prodekanin der Fakultät für Naturwissenschaften, Universität Konstanz
2009-2011 Sprecherin des Fachbereichs Psychologie, Universität Konstanz
2006-2010 Präsidentin und „Past President“ der Europäischen Gesellschaft für Gesundheitspsychologie (European Health Psychology Society, EHPS)
Podiumsgäste
Ihre Forschung umfasst die folgenden Gebiete:
I-development und Bewertung von Interventionen zur Verhaltensänderung (vor allem Ernährung, Tabak- und Alkoholkonsum), um die Gesundheit der Bevölkerung auf eine gerechte Art und Weise zu verbessern und nachhaltige Gesundheitsverbesserungen zu fördern.
Derzeit ist sie Teil der wissenschaftlichen Beratergruppe für Notfälle (SAGE) der britischen Regierung, die Lösungsansätze für die Corona-Pandemie entwickelt und ist insbesondere in zwei Untergruppen von SAGE involviert: die Gruppe für wissenschaftliche Pandemieerkenntnisse im Bereich der Verhaltensforschung (SPI-B) und die Gruppe für Umwelteinwirkungen und Modellerstellung (EMG).
@MarteauTM
tm388@cam.ac.uk
Moderation
Achim Spiller ist ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.
Er ist seit Dezember 2020 Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft für „Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbrauchschutz“.
Im Juli 2020 wurde er in die vom Bundeskabinett eingerichtete Zukunftskommission Landwirtschaft berufen. Seit 2019 ist er auf Einladung der Bundesministerin Mitglied im BMEL Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung („Borchert-Kommission“).
Im FAZ-Ökonomenranking wurde Achim Spiller 2015, 2016, 2018, 2020 und 2021 jeweils als einer der 100 führenden deutschen Ökonomen ausgezeichnet.
Achim Spiller ist Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des „Tierwohllabels des Deutschen Tierschutzbundes“.
Von 2014 bis 2016 war er auf persönliche Einladung des Bundesministers für Ernährung und Landwirtschaft Mitglied des Kompetenzkreises Tierwohl; von 2013 bis 2018 Mitglied im Kuratorium des QS-Systems, davon 4 Jahre als Vorsitzender.
Von 2011 bis 2015 war er Dekan der Fakultät für Agrarwissenschaften, von 2015 bis 2017 Finanzdekan.
Editorial Boards: (1) Journal of Consumer Protection and Food Safety and (2) Review Editor for Animal Welfare and Policy Frontiers in Animal Science